Nomophobie – Die Angst vor der Nicht-Erreichbarkeit?
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“Angst-Phänomen Nomophobie” titelte die BILD-Zeitung Anfang Mai. Und siehe da, zwischen dem bild.de-typischen Mix aus Werbung, Spielerfrauenbildern und Wetter-Panik kam ein renommierter Psychiater zu Wort, der über das neue, klinische Krankheitsbild der Nomophobie (kurz für: No Mobile Phone Phobia) befragt wurde.
Nomophobie – die Angst vor der Unerreichbarkeit?
Dass das Handy – oder “Smartphone”, wie das Mobiltelefon seit seiner Umwidmung zum Taschencomputer bezeichnender Weise genannt wird – uns irgendwann krank macht, ist vermutlich keine Überraschung. Vor 20 Jahren waren es noch Warnungen vor den “Strahlen”, also den Funksignalen des Mobiltelefons, die Aufmerksamkeit erregten. Nun gibt es also die Nomophobie, die Angst vor dem “No Mobile Phone”, also vor der Nicht-Erreichbarkeit via Smartphone.
Verunsicherung, Zittern, Schweißausbrüche – Nomophobie
Dr. Andreas Hagemann, der im angesprochenen BILD-Artikel zitiert wird, berichtet besonders von 20-30-jährigen, die ihr Mobiltelefon vor lauter Angst, nicht erreichbar zu sein oder etwas zu verpassen, gar nicht mehr weglegten. Enden könne das in einer veritablen psychischen Panik oder Angst-Störung, die sich in Stress, Verunsicherung, innerer Unruhe, Zittern und Schweißausbrüchen äußere.
Die Krankheit der Smartphone-Generation?
Man kann auf den Gedanken kommen, dass jede Generation in Wohlstandsgesellschaften so ihre Phobien heranzüchtet.
Die Nomophobie wäre dann die Angst-Störung der Handy-Generation.
Hagemann spricht von selbstauferlegtem Druck, immer erreichbar zu sein und dem Gedanken, dass das gegenüber immer eine sofortige Antwort erwarte, die ich enttäusche, wenn ich nicht sofort auf E-Mail, Sprachnachricht, SMS, WhatsApp-Nachricht etc. reagiere.
31 Prozent der Deutschen spüren den Zwang, ständig aufs Handy zu schauen
2020 hatte Deloitte in einer großangeleten Studie zur Smartphone-Nutzung in Deutschland bereits festgestellt, dass nicht nur 94 Prozent der Handy-Nutzer dieses täglich benutzen, sondern die Hälfte der Menschen zwischen 18 und 24 häufiger als einmal pro Stunde nach eingegangenen Nachrichten schauen. 31 Prozent der “Betroffenen” gaben gar an, sie spürten den Zwang, ständig aufs Mobiltelefon schauen zu müssen.
Ob man aus der Nomophobie nun gleich eine neue Krankheit machen muss, wie die BILD-Zeitung, ist also gar nicht entscheidend. Die Angst, etwas zu verpassen oder andere zu enttäuschen, von der Dr. Hagemann spricht, springt den Leser sogar aus den schnöden Zahlen der Deloitte-Studie an.
Ablenkung und Multitasking
Zusammen mit all den anderen Ablenkungen im Arbeits- aber auch im privaten Alltag und der Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, von der viele im Home Office arbeitende Menschen berichten ergibt sich ein ungutes Bild.
Denn es liegt auf der Hand, dass ständige Erreichbarkeit und damit immerwährende Ablenkbarkeit zusammen mit der fröhliche Urstände feiernden Illusion des Multitaskings (mehr dazu in meinem Blogbeitrag “Multitasking macht süchtig, funktioniert aber nicht”) weder die eigene Produktivität noch die Gesundheit fördert.
Was ist mit den Dingen, die uns wichtig sind?
Wie will ich die Dinge, die mir im Alltag wirklich wichtig sind, gut und zuverlässig erledigen, wenn ich meine, ständig erreichbar sein zu müssen? Und wie soll ich nicht in ungesunden Dauerstress geraten, wenn ich versuche, irgendwie dann doch alles gleichzeitig unter einen Hut zu bringen?
Selbstbestimmung wo immer es geht!
Dass da eher das gefährliche Gefühl entsteht, weder in der Arbeit noch im Privaten zu “genügen”, ist kein Wunder. Umso wichtiger – und sozusagen Nomophobie-vorbeugend – sind eine möglichst selbstbestimmte Tagesplanung (mehr dazu auf unserer Themenseite “Tagesplan”) und einige Grundregeln, die nicht nur, aber gerade im Home Office (siehe dazu unsere Themenseite “Home Office”) den Unterschied machen können.
Es muss also darum gehen, unseren Alltag so weit wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen, wenn wir unnötigen Stress (oder schlimmeres) vermeiden und mehr Zeit und Energie auf die Dinge verwenden wollen, die uns wirklich wichtig sind.
Das kann – je nach Arbeitsumfeld und eigener Disposition – durchaus schwer sein.
Nomophobie und die Angst vor der Selbstbestimmung
Und perfider Weise ist es ja auch so, dass Nachrichten auf dem Handy, E-Mails und Co. einen entlastenden Effekt haben können: Wenn ich mich durch ständiges Reagieren auf mein Umfeld weitgehend fremdbestimmen lasse, kann das ja durchaus auch manchmal bequemer und einfacher sein, als meinen Tag selbst zu bestimmen (soweit das geht). Sprich:
Auch unser eigener innerer Schweinehund kann dazu beitragen, dass wir ins vielzitierte Hamsterrad geraten.
Ein Grund mehr, Handy und Co. öfter mal zu ignorieren. Wie wäre es für den Anfang mit 2 Stunden konzentrierter Arbeitszeit ohne Störung jeden Tag?
Im Artikel erwähnte Quellen:
Smartphone-Nutzungs-Studie: https://www2.deloitte.com/de/de/pages/technology-media-and-telecommunications/articles/smartphone-nutzung-2020.html
BILD-Artikel zur Nomophobie: https://www.bild.de/ratgeber/psychologie/psychologie/nomophobie-darum-sollten-sie-ihr-handy-oefter-stumm-schalten-76207880.bild.html
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